Der Automat als Herdentier

Simple Roboter, die sich wie Vögel oder Fische in Schwärmen bewegen, können viele Aufgaben schneller und besser erledigen als komplizierte Einzelmaschinen. Dank mobilen Technologien erleben sie gerade einen Boom.

Helga Rietz
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So klein wie eine amerikanische Quarter-Münze: Die «Kilobots», die Forscher um Radhika Nagpal an der Harvard University entwickelt haben. (Bild: R. Gross / The University of Sheffield)

So klein wie eine amerikanische Quarter-Münze: Die «Kilobots», die Forscher um Radhika Nagpal an der Harvard University entwickelt haben. (Bild: R. Gross / The University of Sheffield)

Mit einem Roboter hat das Forschungsprojekt von Jürg Germann (Video) auf den ersten Blick gar nichts gemein. Er arbeitet mit luftgefüllten Hüllen aus dünner Plasticfolie. Je nach eingeschlossener Gasmenge ergibt das pralle, kugelige Kissen oder wabbelige, unförmige Gebilde. Die Plasticfolie durchziehen flexible Elektroden, die sich, wenn eine elektrische Spannung anliegt, durch elektrostatische Kräfte gegenseitig anziehen. Damit kann Germann die einzelnen Luftkissen aneinander koppeln und wieder voneinander lösen. «Bioinspirierte Robotik» nennen das die Wissenschafter vom Labor für Intelligente Systeme an der EPF Lausanne, wo Germann arbeitet. Denn so wie viele gleichartige Zellen zusammenspielen, um einen komplexen Organismus aufzubauen, können die Lausanner Luftkissen als künstliche Zellen im Verbund Form und Funktion verändern – je nachdem, was gerade gebraucht wird: Einmal bilden sie wie Knochenzellen feste Strukturen, in anderen Situationen ziehen sie sich wie Muskelzellen zusammen.

Schwarmverhalten

Der grosse Vorteil von modularen Systemen wie diesem liegt darin, dass die vielen gleichartigen Elemente auch dann noch ihre Aufgabe erfüllen können, wenn ein paar Module ausfallen und nicht mehr zur Verfügung stehen; so wie das Fehlen einer Zelle unter vielen wenig Konsequenzen für den Organismus als Ganzen hat. Das lässt sich auch an Tiergesellschaften beobachten, die wie einige Arten von Vögeln, Fischen und Insekten in Schwärmen leben: In der Gruppe verschwimmt das Individuum. Es wird zum Partikel in der Masse, mit durchschnittlichen Eigenschaften, doch ohne Eigenheiten. Dann zählt nur noch der Schwarm.

Was die Natur bei Fischen, Vögeln und Insekten vormacht, lässt sich im Labor nachstellen, erforschen und ausnutzen – mit Robotern in mehr oder weniger strenger Formation. Auf lange Sicht, so hoffen die Wissenschafter, werden grosse Stückzahlen identischer und zugleich simpler Roboter billiger und einfacher herzustellen sein als einzelne, komplizierte Maschinen. Und weil der Schwarm sich immer wieder neu formieren kann, müsste es möglich sein, immer neue Aufgaben mit den immergleichen Modulen zu lösen. Der Forschungszweig begann 1989 mit Gerardo Benis Überlegungen über «zelluläre robotische Systeme». Beni stellte sich eine grosse Gruppe einfacher Automaten vor, die zwar je über eine Kontrolleinheit verfügen und miteinander kommunizieren können, aber nicht zentral gesteuert werden. Alle Roboter sind autonom, dabei aber auf die Kooperation mit den Nachbarn angewiesen, um bestimmte Ziele zu erreichen.

Vieles von dem, was unter dem Etikett «Schwarmrobotik» firmiert, wirkt auf den ersten Blick allerdings reichlich unsinnig und versponnnen: Da gibt es Miniatur-Roboter, die sich zu Schriftzeichen oder zu einer mobilen Landeplattform für Spielzeughelikopter formieren. Oder die Robotertruppe «Swarmanoids», die vor zwei Jahren filmreif ein Buch aus einer Bibliothek «klaute» (Video). Doch dahinter steckt mehr.

Zwei Triebfedern befeuern die Forschung mit Roboterschwärmen. Zum einen ist es die bereits erwähnte Suche der Ingenieure nach bioinspirierten, effizienten Automaten, die sich einfacher als grosse, komplexe Maschinen konstruieren, herstellen und programmieren lassen. Zum anderen nutzen Biologen die Automatenschwärme als Modell, an dem sie ihre Hypothesen über das kollektive Verhalten von Tiergesellschaften überprüfen können.

Biologen und Ingenieure

Einer von ihnen ist Laurent Keller von der EPF Lausanne. Er stattete eine kleine Roboter-Gesellschaft mit evolutionären Algorithmen aus und beobachtete, wie sich deren Verhalten bei der Suche nach (virtuellem) Futter veränderte. Er beobachtete Kooperation, Altruismus und einfache Kommunikationsmuster – obwohl die simplen Automaten anstelle eines Gehirns nur dürftige Kapazitäten zur Speicherung und Verarbeitung von elektronischen Informationen zur Verfügung hatten.

Den Biologen unter den Roboterforschern geht es um die Frage, welche Art von Informationen – und wie viel davon – zum Lösen bestimmter Aufgaben notwendig ist. Eine typische Frage etwa ist die, wie Bienen Brutpflege, Nahrungssuche und Fortpflanzung organisieren, ohne dass eine zentrale Instanz Anweisungen gibt.

Thomas Schmickl von der Universität Graz will mit dem Projekt «Assisi» noch einen Schritt weitergehen. Bisher hätten die Wissenschafter diese Fragestellungen wie Ingenieure angegangen und nach möglichst praktikablen technischen Lösungen für die jeweilige Aufgabe gesucht. Die aber krankten daran, dass man nie wissen könne, ob in der Natur nicht doch ein anderer Mechanismus am Wirken sei, erläutert Schmickl. Bei Assisi dagegen sollen Roboter direkt mit Bienen interagieren. Schmickl stattet sie dafür mit der Fähigkeit aus, Vibrationen und elektrische Felder zu erzeugen, und gibt den Robotern eine Aufgabe. Beispielsweise sollen sie die Bienen ins Kalte locken, also dorthin, wo Bienen sich üblicherweise ungern aufhalten. Diese Aufgabe versuchen die Roboter mit ihren technischen Möglichkeiten zu lösen. Evolutionäre Algorithmen überprüfen die Resultate anhand von Kamerabildern und wählen diejenigen Programme aus, die die gestellte Aufgabe am besten lösen konnten. Diese erfolgreichen Programme dürfen sich im Computer «fortpflanzen» und die nächste Generation von Programmen stellen.

Die Roboter des "Assisi"-Projekts sollen direkt mit Tieren interagieren, beispielsweise wie in dieser Illustration gezeigt mit Bienen. (Bild: Thomas Schmickl / Karl-Franzens-Universität Graz)

Die Roboter des "Assisi"-Projekts sollen direkt mit Tieren interagieren, beispielsweise wie in dieser Illustration gezeigt mit Bienen. (Bild: Thomas Schmickl / Karl-Franzens-Universität Graz)

Schmickl sieht seine Forschung in der Tradition des österreichischen Verhaltensforschers Konrad Lorenz, der mit Attrappen das Verhalten von Graugänsen studierte. Die Roboter dienen dabei als moderne Variante der Attrappe.

Erst vor drei Monaten begann die Arbeit an Assisi, so dass bisher nur eine einzelne Biene mit einem einzelnen Roboter Bekanntschaft gemacht hat. Ebenfalls im Rahmen von Assisi sollen an der EPFL analoge Arbeiten mit Fischen durchgeführt werden. Neben der Erforschung der Tiergesellschaften und ihrer Verhaltensmuster ist ein Fernziel des Projektes laut Schmickl, Tierschwärme von aussen zu kontrollieren und zu manipulieren. Dann könne man mit Robotern vielleicht auf Weidezäune verzichten – das wird in den USA bereits getestet – oder Schadinsekten in Schach halten. Oder sogar Menschenströme durch unübersichtliche U-Bahn-Haltestellen und durch grosse Stadien leiten. Das ginge möglicherweise schon mit ganz einfachen Reizen, die unbewusst wirkten, sagt Schmickl. Denkbar wäre etwa eine Wand, die heller oder dunkler wird.

Anwendungen noch Fiktion

Von Anwendungen wie diesen ist indes schon seit Benis ersten Überlegungen die Rede. Vor allem die Überwachung von Infrastruktur und Natur zu Land, zu Wasser und aus der Luft sollen Roboterschwärme stets «in wenigen Jahren» übernehmen. Ebenso beliebt sind Rettungseinsätze bei Katastrophen aller Art oder noch futuristischere Ideen: Etwa Roboter, die selbständig Felder bewirtschaften und Raumstationen zusammensetzen, oder Schwärme nanometergrosser Maschinen, die in den Körper eingeschleust werden und dort von innen heraus Operationen durchführen oder Medikamente am gewünschten Einsatzort abladen. Bis heute wurde keine einzige dieser Ideen tatsächlich umgesetzt.

Dario Floreano, der an der EPFL eine Forschungsgruppe auf dem Gebiet der Schwarmrobotik leitet und auch ein System für die luftgestützte Erkundung von Katastrophengebieten entwickelt hat – mit dem sich etwa nach einem Bergrutsch Überlebende auffinden liessen –, ist indes überzeugt, dass es keine Frage der Technologie ist, wenn Schwarmrobotik noch nicht im Alltag angekommen ist. Diese habe man schon weit genug entwickelt. Vielmehr bremse fehlende Akzeptanz und das Fehlen klarer Regeln für den Einsatz von grossen Roboterschwärmen deren Anwendung in lebensnahen Bereichen.

Was macht Leben aus?

Das Wesentliche an der Schwarmrobotik ist ohnehin viel theoretischer und vor allem viel mathematischer. Das findet zumindest Nikolaus Correll von der University of Colorado. Noch kein Schwarm habe je etwas Nützliches gemacht, betont er. Dafür habe die Schwarmrobotik eindrucksvoll gezeigt, dass «meistens weniger als man denkt ausreicht», um ein spezifisches Gruppenverhalten hervorzubringen.

Correll geht es vor allem darum, komplizierte Verhaltensmuster in kleine, mathematisch gut handhabbare Brocken zu zergliedern. Dazu hat er mit seiner Arbeitsgruppe in Boulder «Droplets» entwickelt, eine, wie er sagt, denkende Flüssigkeit, die aus kleinen weissen Robotern in Kugelform besteht. Sie sehen aus wie Pingpongbälle und sind auch ungefähr so gross. Schüttet man die Droplets aus einem Eimer aus, formieren sie sich beispielsweise selbständig zu einem zweidimensionalen Display, das mehrfarbige Bilder darstellen kann.

Seine Schwarmroboter namens "Droplets" bezeichnet Nikolaus Correll als denkende Flüssigkeit. (Bild: Nikolaus Correll / University of Colorado)

Seine Schwarmroboter namens "Droplets" bezeichnet Nikolaus Correll als denkende Flüssigkeit. (Bild: Nikolaus Correll / University of Colorado)

Wie viel – oder wie wenig – Kommunikation und Koordination, welche Fähigkeiten sind notwendig, damit aus einem Haufen Zellen ein Lebewesen, aus einer Ansammlung Atome eine Galaxie oder aus einzelnen Neuronen ein funktionierendes Gehirn wird – das sei die Leitfrage seiner Forschung, erklärt Correll. «Letztlich entsteht alle Struktur der uns umgebenden Welt aus Einzelteilen, die nichts über das grosse Ganze wissen», sagt Correll, «und die nur über wenige primitive Mechanismen miteinander gekoppelt sind.» Die Schwarmrobotik sei deshalb in der Lage, über fast alle Fachbereiche hinweg einige der interessantesten und grundlegendsten Fragen zu bearbeiten.

Vor allem in der letzten Dekade hat das Forschungsfeld immens von der rasanten Entwicklung der mobilen Telekommunikationstechnologie profitiert. Chips, Sensoren und Antriebe wurden klein, billig und leicht verfügbar, weil sie in grossen Stückzahlen für allerhand tragbare Elektronik gebraucht wurden. Vor etwa 15 Jahren habe ein einzelner Roboter im Schwarm noch mit einigen tausend Franken zu Buche geschlagen; nun könne man technisch weitaus bessere Geräte für 50 bis 100 Franken pro Einheit zusammenbauen, sagt Floreano. Noch dazu könne man inzwischen sogar die technischen Zeichnungen für ein passendes Chassis aus dem Internet beziehen und auf 3-D-Druckern günstig herstellen. «Ein Teenager könnte das zusammenbasteln», sagt Floreano.

Der Schub, den das Feld durch die mobile Technologie erhalten hat, zeigt sich auch darin, dass die Schwärme immer grösser, die einzelnen Roboter zugleich immer kleiner werden. Den Rekord halten gegenwärtig die an der Universität Harvard entwickelten «Kilobots», die nur noch so gross wie die amerikanische Quarter-Münze sind, aber zu Hunderten angefertigt wurden. Damit werden nun immer komplexere Experimente möglich.

Wohin sich das Forschungsfeld entwickelt, ist laut Floreano nicht vorherzusagen. Dies vor allem, weil ein Grossteil der verwendeten Technologien erst seit kurzem verfügbar sei, so der EPFL-Forscher: «Wir loten gerade noch die Möglichkeiten aus.»

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